Johannes Chwalek
„um eine weitere Verwahrlosung zu verhindern“
Anordnungen zur Fürsorgeerziehung im Kreis Bergstraße in den Jahren 1934-1938
Teil 4
IV
Der Beschluss des Amtsgerichtes Lampertheim „auf Anordnung von Erziehungsmaßregeln für den“ L. E.[i] umfasst vier maschinenschriftliche Seiten und ist damit vergleichsweise umfangreich. Bei der Lektüre wird deutlich, dass das Schriftstück als Reaktion auf eine Stellungnahme des Beschwerdegerichtes zu verstehen ist, „das die Voraussetzungen für eine vorläufige Fürsorgeerziehung verneint“. Um den gegensätzlichen Standpunkt deutlich zu machen, wird der Fall des L. E. noch einmal ausführlich dargelegt; ungeachtet der Feststellung, dass der Standpunkt des Beschwerdegerichts „für das über die endgültige Fürsorgeerziehung entscheidende Gericht nicht bindend“ sei.
„Im März ds.Js.“ 1935 soll der im dreizehnten Lebensjahr stehende L. E. „die 6 Jahre alte Elisabeth H. beim Spielen in einen Stall hineingezogen, die Türe zugeriegelt, das Mädchen an die Wand gestellt, ihm die Hosen heruntergezogen, seinen Geschlechtsteil herausgenommen und in den des Mädchens hineingesteckt“ haben. Das Mädchen habe vor Schmerzen geschrien und sei blutig geworden. „Der Junge drohte es zu schlagen. Er schickte es dann heim und drohte dabei mit Totschlagen, wenn es zu Hause etwas verrate.“ Die blutbefleckten Beine konnte das Mädchen vor seiner Mutter nicht geheim halten. Auf Befragen schilderte es die Tat des L. E. Ein „zugezogener Arzt stellte an dem Geschlechtsteil des Kindes eine frische blutende Verletzung des Hymens fest“ und äußerte sich „empört über den unerhörten Fall […] der Junge gehöre in eine Anstalt.“ Die Verteidigungsstrategie des L. E. – unterstützt von seinem Vater – wonach das sechs Jahre alte Mädchen ihn zur Tat angestiftet habe; dass er „den Körper des Kindes mit seinem Geschlechtsteil nur berührt“ habe oder dass ihm das Mädchen gesagt habe, der W. H. „habe ihm auch die Hosen herunter gemacht und sein Ding unten hin gehalten“, wird vom Gericht zurückgewiesen und als Beleg einer „erheblichen sittlichen Verwahrlosung“ des Jungen und der Erziehungsunfähigkeit des Vaters interpretiert. „Hier erscheint nur Anstaltsunterbringung und -erziehung am Platze; schon mit Rücksicht auf die Gefährdung der anderen Kinder[,] mit denen der Junge bisher in Berührung kam.“ Die NS-Zeit reflektiert sich konkret in folgender Aussage: L. E. habe bisher dem Jungvolk angehört. „Um es rein zu halten und nicht in schlechten Ruf zu bringen[,] ist umsomehr gerechtfertigt, auf Fürsorgeerziehung des Jungen zu erkennen.“ Auch das Verhalten des Vaters (die Mutter wird nur einmal beiläufig erwähnt) bestärkte das Gericht in seiner Entscheidung; dieser habe „die Tat des Sohnes nicht nur nicht genügend bestraft und verurteilt, sondern noch gewissermaßen beschönigt und andere Kinder zu belasten versucht, insbesondere das 6 Jahre alte Mädchen als Anstifterin hingestellt.“
Auch für den sechzehnjährigen V. K. aus Biblis wurde vom Amtsgericht Worms am 21. Februar 1936 wegen Sittlichkeitsvergehen die vorläufige Fürsorgeerziehung angeordnet. Weil er geständig war, „im Laufe des Jahres 1935 wiederholt dem 5 jährigen“ H. K. „und dem 10 jährigen“ V. K. „aus Biblis das Gesäss entblöst[!] und seinen Geschlechtsteil in den After der Kinder eingeführt zu haben“, wurde er am „8. Februar 1936 unter Haftbefehl gestellt“. Ermittlungen hätten ergeben, „dass er erblich belastet ist. Sein Vater ist verstorben. Seine Mutter ist schwachsinnig und nicht in der Lage[,] den Sohn richtig zu erziehen.“ Sofortiges behördliches Eingreifen sei am Platz, „da der Junge aus der bisherigen Umgebung zu seinem eigenen Besten alsbald verschwinden muss, und damit er von weiterer Untersuchungshaft verschont werden kann.“
V
Zuletzt soll von zwei Missbrauchs-Opfern die Rede sein. Die noch nicht dreizehnjährige Hella B. aus Lampertheim musste vom Amtsgericht Lampertheim vor ihrem Vater geschützt werden, der sich an der Tochter eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht hatte und dafür „zu 1 Jahr 6 Monaten Zuchthaus und 3 Jahren Ehrverlust verurteilt“ worden war. Die Entlassung stand kurz bevor. „Ein Zusammenleben von Vater und Tochter bedeutet eine Gefährdung für das geistige und leibliche Wohl des Kindes“, heißt es im Fürsorgeerziehungs-Beschluss vom 10. Dezember 1934, zudem habe der Vater „auf Grund gesetzlicher Bestimmung […] die elterliche Gewalt über das Mädchen verwirkt. Eine Gewähr dafür, dass die Vorkommnisse, die zu einer Verurteilung führten, künftighin unterbleiben, kann nicht als gegeben angesehen werden.“ Wie auch in anderen oben geschilderten Fällen, bei denen Vater und Mutter vorhanden waren, gesellte sich zum klaren Fehlverhalten des einen Elternteils indolentes Verhalten des anderen. So sei auch die Mutter Hella B.s „nicht imstande“ gewesen, „das Kind dem väterlichen Einfluß zu entziehen. Sie hat, nachdem sie Anzeige erstattet und im Ermittlungsverfahren bereits ausgesagt hatte, in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert. Sie hat damit ihren Standpunkt zu Gunsten ihres Mannes geändert. Dies bedeutet aber, dass trotz des guten Leumunds der Mutter und der guten Behandlung, die das Kind durch die Mutter erfährt, die moralische Erziehung des Kindes gefährdet ist.“ Nachträglich bleibt zu hoffen, dass die „Unterbringung in einer Familie“, die das Gericht statt „Anstaltserziehung“ für Hella B. für angebracht hielt, der Schülerin zum Wohl geraten war.
Am 21. Juli 1938 hatte das Amtsgericht Bensheim über das Schicksal der vier Kinder der Eheleute G. in Hochstädten zu entscheiden. Die Eltern wurden als „nicht in der Lage“ bezeichnet, „den Kindern eine ordnungsgemäße Erziehung angedeihen zu lassen“; es bestünde vielmehr die Gefahr, „daß die Kinder einer vollkommenen Verwahrlosung anheimfallen.“ Der klar sich fehlverhaltende Elternteil war die Mutter, der Vater verhielt sich gegenüber dem destruktiven Gebaren seiner Ehefrau indolent. „Wie das Kreisjugendamt […] glaubhaft dargetan hat, hat die Mutter mit“ dem Kaufmann Karl H. „ein Verhältnis unterhalten; sie hat sich mit“ H. „oft bis nachts gegen 2-3 Uhr herumgetrieben.“ Auch sei sie „des öfteren halbtageweise von ihrer Wohnung weggeblieben, ohne sich darum zu kümmern, ob ihre Kinder etwas zu essen hatten[,] alle hungrig ins Bett gehen mußten.“ Unter diesen Verhältnissen geschah es, dass „die heute 13 Jahre alte Marie G. bereits vor 2 Jahren Geschlechtsverkehr gehabt“ habe, wie ebenfalls „das Kreisjugendamt glaubhaft gemacht“ habe. Es sei ferner erwiesen, dass Marie G. am 21. März 1938 „mit dem Kaufmann Karl H. in der Wohnung ihrer Eltern den Geschlechtsverkehr ausgeübt“ habe, „ohne sich dabei irgendwie zu sträuben.“ Nach den getroffenen Ermittlungen sei anzunehmen, „daß der Geschlechtsverkehr mit“ H. „im Einverständnis mit der Mutter der Marie“ G. „erfolgt ist.“ Neben Marie G. wurden auch ihre jüngeren Geschwister Friedrich G., Heinrich Adolf G. und die erst eineinhalb Jahre alte Karla G. „der vorläufigen Fürsorgeerziehung überwiesen.“
Schlussbemerkung
Die Erwachsenen, die es zu verantworten hatten, dass ihre Kinder oder Stiefkinder der Heimerziehung übergeben werden mussten, zwangen sie damit in eine Lebenssituation hinein, die in der Literatur als bedrückend bis offen gewaltsam geschildert worden ist. Dabei umspannten die verstörenden Befunde unterschiedliche gesellschaftspolitische Systeme, vom Kaiserreich über die Weimarer Zeit bis hin zu den NS-Jahren und noch darüber hinaus in die fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik.[ii] Die NS-Zeit bildete zweifellos einen Höhepunkt der Menschenverachtung auch im Bereich der Fürsorgeerziehung. Unter der Dichotomie von „fördern oder ausmerzen“ kam es zu Zwangssterilisationen bis hin zu Einweisungen in Konzentrationslager.[iii] So richtig es in vielen der oben genannten Fälle gewesen sein mochte, die Schüler aus ihren Familien herauszuholen, so bedenklich war die Alternative, die ihnen der NS-Staat aufgezwungen hatte.[iv] Es sollte noch bis in die siebziger Jahre dauern – in der ehemaligen DDR bis zu deren Ende im Jahr 1990 – dass das Recht des Heimkindes auf Wertschätzung und Förderung seiner Entwicklungsmöglichkeiten ins gesellschaftliche Bewusstsein gelangte. Ohne pädagogisches Controlling blieben aber auch diese Biografien in Heimen (wie auch in Internaten) prekär, wie die Missbrauchsfälle in den siebziger und achtziger Jahren gezeigt haben.
[i] Auch die Vornamen der Personen dieses Kapitels, das von schweren Sittlichkeitsvergehen handelt, sind aus Datenschutzgründen anonymisiert worden.
[ii] Wenn für Detlev J.K. Peukert „die Geschichte des ‚fürsorgepädagogischen Umgangs mit ‚auffälligen’ Jugendlichen in der Zeit des Kaiserreichs und während der Weimarer Republik […] im Schnittpunkt einiger Fragen“ steht, „die die modernisierungstechnisch zugeschnittene gesellschaftliche Erfolgsgeschichte problematisieren könnten“ (Peukert, Detlev J.K.: Grenze der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932. Köln 1986, S. 20), dann gilt dies noch ebenso für „Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“, wie der Untertitel eines Buches von Peter Wensierski lautet. Der Klappentext beginnt mit den Sätzen: „Nicht für alle waren die fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik eine Zeit des Aufbruchs. Im Abseits der Gesellschaft verbrachten einige hunderttausend Heimzöglinge unter heute unvorstellbaren Bedingungen ihre Kindheit in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen. Eingewiesen manchmal nur deshalb, weil sie den rigiden Moralvorstellungen der Zeit widersprachen, wurden Heimkinder jahrelang gedemütigt, geschlagen, zur Strafe eingesperrt, ausgebeutet.“ (Wensierski, Peter: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik- München 2006 [2. Auflage]). Die ehemalige DDR stand mit ihren Jugendwerkhöfen und Spezialheimen, in denen rigide Erziehungsmethoden bis hin zu klaren Menschenrechtsverstößen an Kindern und Jugendlichen begangen wurden, dieser bedauerlichen Tradition in nichts nach. (Zur ersten Orientierung siehe im Internet unter dem Stichwort: Ausgleich für DDR-Heimkinder)
[iii] Vgl. etwa die erweiterte Fassung eines Vortrags von Wolfram Schäfer in der Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen am 22.02.2000; www.heimkinder-ueberlebende.org/Fuersorgeerziehung_im_Vaterland_-_1924-1991.html – Fürsorgeerziehung im Nationalsozialismus – „Bewahrung“ und „erbbiologische Aussiebung“ von Fürsorgezöglingen.
[iv] Dem hier geschilderten erfreulichen Ausnahmefall des Gustav S., der im Jahr 1938 elfjährig der endgültigen Fürsorgeerziehung überwiesen wurde und es nach dem Krieg zum Vermessungstechniker, Familienvater und Pensionär an der Costa Brava brachte, steht auf dem Gebiet der Fürsorgeerziehung im NS-Staat ein Leid entgegen, das nicht ermessen werden kann.