Fürsorgeerziehung, 2. Teil


Johannes Chwalek

 

„um eine weitere Verwahrlosung zu verhindern“

Anordnungen zur Fürsorgeerziehung im Kreis Bergstraße in den Jahren 1934-1938

 

Teil 2

 

II

Der Begriff der Verwahrlosung fällt immer wieder in den Anträgen und Beschlüssen zur Fürsorgeerziehung der in Rede stehenden Akte. Bei drei Schülerinnen war er jedoch nicht verbunden mit Diebstählen oder Misshandlung, sondern wurde mit „sittlicher Verwahrlosung“ begründet. So auch bei Agathe R., Tochter eines Landwirts in Schönberg. Sie treibe sich „mit jungen Burschen des Abends auf der Straße“ herum und sei mit einem Gerhard K. aus Bensheim öfters zusammen ins Kino gegangen. Der Hauptteil des Antrages zur Fürsorgeerziehung für die Schülerin richtet sich auf den Punkt, dass sie, „trotzdem sie leugnet“, im Verdacht stehe, „evtl. bereits Geschlechtsverkehr gehabt“ zu haben. „Irgendwelche Beweise für diesen Verdacht haben wir allerdings nicht, jedoch wird unsere Ansicht auch von dem Bürgermeister Koch und Hauptwachtmeister Schröbel, welcher die Vernehmungen durchgeführt hat, geteilt. Wir haben deshalb eine Untersuchung der R. durch das Staatl. Gesundheitsamt beantragt.“ In einem handschriftlichen Nachtrag wird der Antrag auf Fürsorgeerziehung unter bestimmten Umständen jedoch wieder zurückgezogen. Es heißt, „Frau R., die Mutter der Agathe R.“, sehe, wie der Bürgermeister heute mitgeteilt habe, „in aller nächster[!] Zeit der Geburt ihres 9. Kindes entgegen.“ Agathe R. sei die einzige Stütze ihrer Mutter im Haushalt. Wenn die Untersuchung des Staatlichen Gesundheitsamtes „negativ verläuft“ und Agathe R. „in Zukunft zu Klagen keinerlei Anlaß mehr gibt“, würde der Antrag zurückgezogen. Aus der Akte geht die weitere Entwicklung des Falles nicht hervor. Die ungünstigen familiären Verhältnisse der Schülerin und die sicherlich bedrückende Wohnungssituation, die sie wohl des Abends auf die Straße getrieben hat, werden im Antrag nicht reflektiert.

Nicht viel anders sieht es in dieser Hinsicht bei Elisabeth Margarete R. aus, einem siebenjährigen Mädchen aus Bensheim. Im Antrag des Kreisjugendamtes Bensheim zur Fürsorgeerziehung vom 28. November 1936 wird erwähnt, dass Elisabeth R. „das uneheliche Kind der Frau August“[!] R., geb. Sch. in Bensheim sei. „Das Kind befand sich früher in Hochstädten in Pflege, bis es die Kindesmutter nach ihrer Verheiratung in den Haushalt aufnahm. Der Stiefvater erteilte dem Kind den Namen.“ (Gemeint ist wohl der Nachname.) „Der uneheliche Vater“ (gemeint ist der leibliche Vater) ist unbekannten Aufenthalts.“ Im Haushalt der Familie befanden sich noch zwei Kinder „im Alter von 4 Jahren und ein Säugling von einigen Wochen. Der Stiefvater ist arbeitslos. Die Wohnung, bestehend aus 2 Räumen, macht einen sehr armen Eindruck.“ Dieser Beschreibung der äußeren Lebenssituation des Kindes folgt die Darstellung seiner körperlichen und seelischen Verfassung, aber ohne dass nach direkten Zusammenhängen geforscht würde. Elisabeth sei „ihrem Alter entsprechend sehr klein und schwach entwickelt. Sie besucht die 2. Klasse bei Herrn Lehrer Schwaml. Das Kind ist sehr unruhig in der Schule und stört dadurch den Unterricht empfindlich. Sie fängt während des Unterrichts plötzlich an zu pfeifen oder singt, macht allerlei komische Fratzen und lenkt dadurch die Aufmerksamkeit der Mitschüler auf sich. Bestrafungen haben so gut wie keine Wirkung.“ Das Kind sei nicht unbegabt, mache aber „durch sein unstetes Verhalten dem Lehrer viel Last.“ Die Bemerkung, dass das Kind „nicht unbegabt“ sei, ist die einzige positive Äußerung, ansonsten enthält der Beschluss des Amtsgerichtes Bensheim eine Aufzählung negativer Eigenschaften des Mädchens: unehrlich und verlogen, diebisch gegenüber den Mitschülern, der Mutter kleine Geldbeträge abschwätzend und vernaschend, den Unterricht schwänzend und die Eltern anlügend, „es sei schulfrei gewesen.“ Als Endurteil über das Mädchen erfolgt der Satz, „daß es sich um ein psychopatisch[!] veranlagtes Kind“ handle, „dem nur verständnisvolle Erziehung, am besten in einer Anstalt, entgegenzuwirken vermag.“ Verständnis seitens der Mutter fehlte Elisabeth Margarete R. offensichtlich. Im Antrag ist zu lesen, die Mutter sei „über das Betragen ihres Kindes sehr ungehalten“ und gebe zu, „daß sie es nicht zum Guten beeinflussen könne.“ Das Amtsgericht Bensheim entsprach am 14. Januar 1937 dem Antrag des Kreisjugendamtes und ordnete Fürsorgeerziehung für Elisabeth Margarethe R. an. Dabei formulierte das Gericht noch in schärferer Form als das Kreisjugendamt: „Es muß bei dem Kind von einer geistigen und charakterlichen Verwilderung gesprochen werden. Nach dem Gutachten des staatlichen Gesundheitsamtes handelt es sich bei dem Kind um ein schwer psychopathisches Kind mit mangelhaftem ethischen Empfinden, das in der Familienerziehung sichtlich zu verwahrlosen droht.“

Die vorläufige Fürsorgeerziehung für die vierzehnjährige Schülerin Gertrude M. verhängte das Amtsgericht Bensheim am 03. September 1936 mit folgender Begründung: Nach eigenem Geständnis und den Feststellungen des Kreisjugendamtes Bensheim habe Gertrude M. bereits im 14. Lebensjahr sechsmal Geschlechtsverkehr mit einem Arbeitsdienstmann des Arbeitsdienstlagers Bensheim gepflogen. „Am 23. August 36 entfernte sie sich von zuhause und kehrte erst am 27. August 1936 zurück. Während dieser Zeit trieb sie sich im Freien herum und hatte mehrfach Geschlechtsverkehr mit einem Reichswehrsoldaten“; am 30. August 36 sei sie wieder von zu Hause fort und unbekannten Aufenthalts gewesen. Die Eltern seien nicht in der Lage, erzieherisch auf ihre Tochter einzuwirken, die „bereits in hohem Grade sittlich verwahrlost“ sei und „vollkommen moralisch zu verkommen“ drohe, „falls nicht alsbald fürsorgend für sie eingeschritten“ werde; auch liege Gefahr im Verzuge. Familiäre Hintergründe für das Verhalten der Schülerin werden nicht genannt. Nach einem angeforderten Bericht der Schule wurde die endgültige Fürsorgeerziehung für die Vierzehnjährige beantragt. Gertrude M. ist im Jahr 1982 sechzigjährig in Bayern verstorben.

 

 

 

 

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